Stühle mit geflochtenen Sitzflächen finden sich in vielen Schweizer Wohnungen und Häusern. Aber wehe, wenn das Flechtwerk in die Jahre kommt und reisst. In der Flechterei der Stiftung St. Jakob in Zürich werden die Stühle und andere Möbelstücke wieder aufgepeppt.
Man müsste ja eigentlich nicht warten, bis der Stuhl kracht und der Besuch unsanft auf dem Hosenboden landet. Doch Tatsache ist, dass viele Leute zu Hause Sitzmöbel mit geflochtenen Sitzflächen oder Lehnen besitzen, die kleinere oder grössere Schäden aufweisen. Meist hofft man, dass die Stühle trotz Defekten noch möglichst lang halten, denn der Aufwand für die Reparatur scheint recht gross zu sein. Ein Flechtwerk ist nicht ganz so einfach zu flicken wie eine Sitzfläche aus Holz. Hinter jeder Flechterei stecken spezialisierte Handarbeit und viel Geduld.
Konzentrierte Atmosphäre
Von der traditionellen Handwerkskunst kann man sich in der Flechterei der Stiftung St. Jakob im Zürcher Kreis 5 ein Bild machen. Hier, in der hippen Umgebung des zu einer Martkhalle umfunktionierten Eisenbahnviadukts, warten unzählige Stühle darauf, repariert zu werden. Die Stiftung St. Jakob bietet 440 beeinträchtigen Menschen einen Arbeitsplatz. Angeleitet werden sie von rund 110 Fachangestellten. Neben der Bäckerei und Confiserie mit mehreren Filialen in der Stadt Zürich betreibt die Stiftung unter anderem eine Elektronikwerkstätte, einen Betrieb für Gebäude- und Gartenpflege sowie eine Schreinerei. Mit dieser Schreinerei arbeiten die Mitarbeitenden der Flechterei eng zusammen, denn häufig muss auch das Holz an den Stühlen, Sesseln oder Liegen repariert und aufgefrischt werden.
Während in der Schreinerei gefräst und gehobelt wird, geht es in der Flechterei viel ruhiger zu. Die Werkstatt befindet sich in einem hellen Raum mit grossen Fenstern. Zwei Dutzend Mitarbeitende sitzen hinter ihren Werkstücken und arbeiten fleissig und konzentriert; nur ab und zu tauschen sie ein paar Worte aus. Die Co-Gruppenleitung der Flechterei teilen sich Kathrin Weber und Simon Mathys. Sie leiten insgesamt rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an geschützten Arbeitsplätzen an. Darunter sind eine Frau mit Trisomie 21, die schon mehr als 40 Jahre hier arbeitet, und zwei blinde Männer mit mehr als 35 Dienstjahren.
Anspruchsvolle Muster
Die Muster, die von Hand geflochten werden, sind teilweise kompliziert: eine Herausforderung nicht nur für blinde, sondern auch für sehende Mitarbeitende, wie Kathrin Weber betont. Unter den Beschäftigten sind Menschen, die unter psychischen Problemen leiden und nach einer Auszeit nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt zurückfanden. Kathrin Weber prüft während der Flechterei immer wieder, ob die Muster korrekt geflochten sind. Findet sie Fehler, zieht sie einzelne Fäden heraus, und die Arbeit muss nochmal gemacht werden. «Unser oberstes Ziel ist, ausgezeichnete Qualität zu liefern», sagt die Gruppenleiterin. «Geknickte Fäden sind potenzielle Bruchstellen, das können wir uns nicht leisten. Schliesslich zahlen die Kunden für unsere Arbeit gutes Geld.» Die Co-Gruppenleiterin war vor ihrer Anstellung bei der Stiftung St. Jakob in leitender Position in der Informatikbranche tätig; hier hat sie eine neue, sinnvolle Tätigkeit gefunden, die ihr gefällt.
Eine geflochtene Stuhlfläche kommt im Schnitt auf einen Betrag von 250 bis 350 Franken zu stehen. Die Wartezeit beziffert Kathrin Weber auf sechs bis acht Wochen. In Einzelfällen kann es auch einmal mehr sein. Sie sagt, die Kunden seien sehr dankbar, wenn sie ihre Möbelstücke geflickt und aufgefrischt zurückbekämen. «Viele der Stühle sind Erbstücke, die sich seit zwei oder drei Generationen im Familienbesitz befinden. Mit den Traditionsmöbeln sind viele Geschichten verbunden.» Unter der Kundschaft seien auch jüngere Leute, ergänzt sie. «Sie kaufen ein paar günstige Möbelstücke im Brockenhaus oder auf dem Flohmarkt und entdecken erst mit der Zeit deren Wert. Wenn die Stühle Defekte aufweisen, lassen sie diese flicken.»
Diverse Designklassiker
Die Stühle, Sessel und Liegen, die von den Kundinnen und Kunden mit kaputten Geflechten angeliefert wurden, sind in Nischen in der Werkstätte zwischengelagert. Bei vielen sind die alten, durchgesessenen Teile bereits entfernt worden. Ein kleines Muster hat Kathrin Weber aber bei jedem Stuhl herausgeschnitten, damit das neue Geflecht dem bisherigen möglichst ähnlich sieht. Das ist besonders wichtig bei Möbelstücken, die aus einer Serie stammen und nach der Reparatur und Renovation wieder zu den übrigen passen müssen. Die Sitzflächen oder Rückenlehnen werden nach dem Flechten und Einpassen dem Original entsprechend eingefärbt.
Viele der Möbelstücke, die in der Flechterei St. Jakob durch die flinken Hände der Mitarbeitenden gehen, sind Designklassiker: Darunter sind Freischwinger-Stühle von Mies van der Rohe, ein Bauhaus-Klassiker mit einem Rattan- oder Pedigrohrgeflecht, oder auch der Moser-Stuhl mit dem Jonc-Geflecht aus der Schweizer Fabrik Horgen Glarus. Das Jonc-Geflecht wird auch Achteck- oder Wienergeflecht genannt, wie Kathrin Weber erklärt. Das Material stamme von der asiatischen Rattanpalme, deren Aussenhaut in Streifen geschnitten wurde. Für das Muster werden die Fäden nach genauer Vorgabe über- und untereinander geflochten und gespannt, so dass eine möglichst ebenmässige Fläche entsteht.
Hin und wieder wird auch ein sogenannter Spaghetti-Stuhl von Embru, der offiziell Altdorfer Liegestuhl heisst, mit neuen, farbigen Kunststoffschnüren bespannt. Die Klassiker fallen auf durch ihre robuste Ausführung. Die tragenden Teile sind beinahe unzerstörbar, so dass sie viele Jahre und Jahrzehnte überdauern. «Die Besitzer hängen an diesen Stücken und möchten den Wert erhalten, anstatt sie wegzuwerfen und neue Möbel zu kaufen», sagt Kathrin Weber. Für die Mitarbeitenden der Flechterei ist das eine wichtige Motivation.
Prominenter Kunde
In den Nischen mit den
defekten Stücken finden sich auch einige typische Tessiner Stühle mit
Binsen- oder Schnurgeflecht. Die Vielfalt der verarbeiteten Materialien
und der traditionellen Flechttechniken ist gross. Die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter beginnen ihre Arbeit mit einer einfacheren Technik und
bilden sich dann ihren Fertigkeiten entsprechend weiter. Kathrin Weber
erzählt: «Einer der schönsten Momente ist, wenn ein Kunde einen
geliebten Stuhl von der Reparatur abholt. Oft strahlen dann der
Auftraggeber und der Mitarbeitende, der am Stuhl gearbeitet hat, um die
Wette.»
Zu ihrer Kundschaft zählt die Flechterei St. Jakob auch
den Schriftsteller Franz Hohler. In einem Testimonal lässt er sich wie
folgt zitieren: «Wenn ein geflochtener Stuhl durchgehockt ist und mich
lange genug vorwurfsvoll angeschaut hat, fahre ich mit dem 4er-Tram bis
zur Haltestelle Dammweg und werde von einem fröhlichen Flechter mit
fröhlichen Gesten begrüsst und lasse meinen Stuhl so lange dort, bis er
mich nicht mehr vorwurfsvoll anschaut, sondern vor Glanz und Frische
kaum mehr zu erkennen ist.» Franz Hohler wartet jedenfalls nicht so
lange, bis ein Stuhl in sich zusammenbricht.
Über 100-jährige Geschichte
Die Flechterei der Stiftung St. Jakob ist Teil des Netzwerkes der Interessengemeinschaft Korbflechterei Schweiz. In der Stiftung in Zürich wird eine von zwei Korb- und Flechtwerkgestalterinnen EFZ in der Schweiz ausgebildet. Die Stiftung St. Jakob wurde vor mehr als 100 Jahren gegründet. Heute ist sie laut CEO Alexander Howden ein wirtschaftlich ausgerichtetes Sozialunternehmen. Howden sagt: «Wir bieten unseren Mitarbeitenden nicht nur eine Beschäftigung, sondern eine sinnerfüllende Arbeit, bei der sie Qualitätsprodukte herstellen.»
Gewerbezentrum Stiftung St. Jakob
Viaduktstrasse 20
8005 Zürich
Tel. 044 295 93 93
Text: Rebekka Haefeli, Fotos: Gaëtan Bally
aus: Häuser modernisieren, Heft Nr. 3/2019